27. Nov 2025
Journalist: Gunnar von der Geest
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Foto: Presse
Die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) hat kürzlich einen Paradigmenwechsel gefordert. Was sich dahinter verbirgt, erklärt DLG-Präsident Hubertus Paetow.
Herr Paetow, Anfang September haben Sie auf den DLG-Unternehmertagen vor mehr als 500 Teilnehmenden ein Diskussionspapier zum neuen Leitbegriff „Nachhaltige Produktivitätssteigerung“ vorgestellt. Dieses sorgte auch außerhalb Ihrer Organisation für große Resonanz. Worum geht es genau?
Die Kernaussage lautet, dass ein neues Fortschrittsverständnis entstehen sollte, das Produktivität und Ressourcenschutz gleichermaßen adressiert. Konkret: „Nachhaltige Produktivitätssteigerung“ löst „Ökologisch-soziale Land- und Lebensmittelwirtschaft“ ab. Unserer Auffassung nach ist die europäische Transformationsagenda des sogenannten Green Deals an der politischen und ökonomischen Realität gescheitert. Während die einseitige ökologisch-soziale Ausrichtung der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft den Ertrag bremst und die internationale Wettbewerbsfähigkeit schwächt, bleiben erhoffte Fortschritte hinsichtlich Biodiversität, also Artenvielfalt, und Klimaschutz weitgehend aus bzw. deutlich hinter den Erwartungen zurück. Angesichts globaler Krisen braucht es deshalb einen Kurswechsel, einen neuen Fortschrittsbegriff, der Ertragssteigerung und Wettbewerbsfähigkeit in den Fokus nimmt und genauso wie Ressourcenschutz und Tierwohl einbezieht.
Je mehr Daten aus der Land- und Lebensmittelwirtschaft, Klimaforschung und Naturschutz zusammenfließen und in Korrelation gesetzt werden, umso besser können wir gemeinsam Strategien entwickeln und uns im Wettbewerb resilienter aufstellen.
„Nachhaltige Produktivitätssteigerung“ klingt so, als ob daraus Zielkonflikte entstehen könnten. Was sind Ihre Vorschläge, in welche Richtung sich die Land- und Lebensmittelwirtschaft entwickeln sollte?
Eine wichtige Anmerkung vorweg: Das weitgehende Scheitern der aus dem ökologisch-sozialen Leitbild entwickelten Strategien darf keinesfalls zu einer Abkehr von den grundsätzlichen Zielen einer ressourcenschonenden Produktion führen, sondern sollte Startpunkt eines neuen Diskurses sein. Dafür wären drei Voraussetzungen zu erfüllen: Erstens braucht unsere Gesellschaft eine fortschrittsoffene Haltung. Hierzu zählt, dass Nutzen und Risiken von Innovationen möglichst objektiv bewertet und dabei „potenzielle Gefahr“ und „tatsächliches Risiko“ eindeutig unterschieden werden. In Bezug auf den Erfolg von Innovationsprozessen ist das eine der wichtigsten Bedingungen. Zweitens benötigen wir eben diese Innovationen in Bereichen wie Künstlicher Intelligenz, Digitalisierung und neuen Züchtungstechnologien, die den Zielkonflikt von Ertragszuwächsen und Ressourcenschutz signifikant verringern. Dazu gehören zum Beispiel effiziente Daten-Plattformen für verbesserte Entscheidungs- und Steuerungsalgorithmen, teilautonome Robotik, wassersparende Pflanzensorten und robuste Rassen in der Tierhaltung. Dies fördert nicht nur Präzision und Effizienz, sondern führt auch zu steigenden Erträgen und verbessertem Ressourcenschutz. Drittens wäre es erforderlich, dass wir eine objektive und an gesellschaftlichen Zielen orientierte Messung, Bewertung und Inwertsetzung aller Faktoren inklusive Artenvielfalt und Tierwohl vornehmen, ähnlich wie es beim Handel von Treibhausgas-Emissionen der Fall ist. So kann der klassische Produktivitätsbegriff gut begründet, um den Verbrauch oder die Erzeugung sämtlicher Ressourcen ergänzt und zur „Nachhaltigen Produktivität“ weiterentwickelt werden. Dazu ist es meines Erachtens sinnvoll, an alle Parameter ein „Preisschild“ dranzuhängen. Das sorgt für Transparenz.
Sie sprachen von der Notwendigkeit, dass Ihre Branche hinsichtlich Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz an Geschwindigkeit zulegen müsste. Wo sehen Sie Nachholbedarf?
Im Prinzip verfügen wir in der deutschen Landwirtschaft über eine sehr solide Basis. Viele Betriebe sind technologisch gut aufgestellt. Allerdings wurden Forschungsergebnisse und tradiertes Wissen aus mehr als 200 Jahren Landwirtschaft und fachlicher Praxis bislang zu selten digitalisiert und stehen deshalb nicht breit zur Verfügung. Dabei sind auch bei uns hochwertige Datensätze die „Bodenschätze“ des 21. Jahrhunderts. Ich würde es begrüßen, wenn wir zukünftig noch enger branchenübergreifend zusammenarbeiten. Je mehr Daten aus der Land- und Lebensmittelwirtschaft, Klimaforschung und Naturschutz zusammenfließen und in Korrelation gesetzt werden, umso besser können wir gemeinsam Strategien entwickeln und uns im Wettbewerb resilienter aufstellen. KI wird bei der Entscheidungsfindung in den Betrieben sehr gute Dienste leisten.
Was möchten Sie mit Ihrem Positionspapier erreichen?
Wir sollten uns vom alten Paradigma lösen und unter Einbeziehung aller Faktoren rasch einen gesellschaftlichen Konsens finden. Dies ist eine riesige Chance für die Landwirtschaft, die Gesellschaft und die Natur.
Hubertus Paetow (58) wurde 2018 zum Präsidenten der DLG (31.000 Mitglieder) gewählt. Seine Familie ist seit rund 450 Jahren in der Landwirtschaft tätig. Ob eines der fünf Kinder den 1.450 Hektar großen Agrarbetrieb in Finkenthal (Mecklenburg-Vorpommern) übernehmen wird, steht noch nicht fest. In puncto Ernährung ist er undogmatisch: „Ich esse alles, was schmeckt.“