29. Jun 2020
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Business
Journalist: Katja Deutsch
Andera Gadeib, Vorständin des Bundesverbands IT-Mittelstand – bitmi, über hilfreiche Tools und Impulse für die Zukunft.
Im Januar 2020 war die Welt noch eine andere. Hersteller, Händler und Kunden freuten sich auf gemeinsame Termine, Konferenzen, Messen, planten ihr Budget und ihre Investitionen – um Mitte März durch den kompletten Lockdown zu Abertausenden in Schockstarre zu verfallen. Auf einen Schlag stand das Leben still und im gleichen Maße, wie während dieser gespenstischen Stille bei vielen die Umsätze wegbrachen, stieg die Angst und bei manchen auch die Wut. Wer jetzt digital gut aufgestellt war, hatte – und hat! – einen klaren Vorteil, ganz egal, in welchem Land auf der Welt er sich befindet. Wie steht es hier um Unternehmen in Deutschland?
„Wenn wir das Digitale betrachten, verharrt der Mittelstand derzeit immer noch in operativen Themen, also sozusagen in der ersten Welle der Digitalisierung“, sagt Andera Gadeib, Vorständin des Bundesverbands IT-Mittelstand, bitmi. Die Digitalexpertin, die bereits vor 25 Jahren ihre Diplomarbeit in den USA über das Einkaufsverhalten im World Wide Web geschrieben hat und als eine der führenden Digitalexperten Deutschlands gilt, bemängelt eine gewisse Zögerlichkeit bei vielen Unternehmen.
„Natürlich ist es wichtig, Prozesse wie Posteingänge, Einkaufsprozesse und Urlaubsanträge zu digitalisieren“, sagt Andera Gadeib. „Aber Entscheider in mittelständischen Unternehmen stecken immer noch zu 95 Prozent in diesen operativen Themen fest – also wie das Digitale das Operative übernehmen und automatisieren kann. Der Mittelstand ist schon sehr damit beschäftigt, seine eigene Struktur zu optimieren, und weniger damit, die Zukunft zu gestalten, etwa neue Geschäftsmodelle, kundenzentriert zu denken. Ich glaube, da haben viele noch einen ganz schön langen Weg vor sich.“
Digitale Prozesse voranzutreiben bedeute übrigens nicht, sich mit allen Mitteln nur auf Social Media zu stürzen. Für Andera Gadeib, die bereits 1999 die digitale Marktforschungs-agentur Dialego gründete, sind Instagram und Facebook zwar durchaus wichtige Instrumente, um einen Eindruck zu erhalten, was einzelne Kunden über Produkte denken und sagen, aber um solide Marktforschung zu betreiben, und darauf basierend strategische Entscheidungen zu treffen, geht nichts über eine valide Studie mit belastbarer Stichprobe.
Ihre wichtigsten Tools für den unternehmerischen Alltag? „Für die eigene Organisation ist beispielsweise ein zentraler, digitaler Kalender super. Bei mir laufen hier mehrere Kalender zusammen, auch die meiner drei Kinder, die zu unterschiedlichen Zeiten nach Hause kommen oder zum Sport gehen."
Das zweite Tool, von dem die Vorständin der bitmi nie mehr lassen möchte, ist das digitale Notizbuch Evernote. „Dieses Tool ist aus meinem Alltag nicht mehr wegzudenken, denn es merkt sich Inhalte, und zwar anders, als man es vielleicht anhand von Ordnern gewöhnt ist. Unabhängig von der Trennung „privat“, „Firma A“, „Firma B“, sucht Evernote ähnliche Beiträge, die ich irgendwann einmal abgelegt habe: Webseiten, PDFs, Baupläne in allen Varianten oder sämtliche Rechnungen zu Handwerkern und mehr. Ich finde, das kann Technologie sehr gut für uns erledigen.“ Papierstapel schrumpfen, Teams können damit schnell ihr Wissen teilen.
Für Mittelstand und Projektteams empfiehlt die Digitalpionierin außerdem Slack, eine Plattform, die Emails ersetzt. „Emails sind eigentlich nicht der richtige Weg, um Informationen zu teilen, die Mailbox quillt über, man findet Dinge nicht wieder und das macht den Tag super unstrukturiert.“ Slack bietet Kanäle zu einzelnen Themen, in denen Informationen abgelegt werden und Berechtigte Zugriff haben.
Niemand kann derzeit eine Prognose abgeben, wie sich Pandemie und Wirtschaft entwickeln. Doch schon kurz nach der ersten Schockstarre registrierte die bitmi-Vorständin bei der Mehrzahl der Unternehmer einen starken Gestaltungsmodus. Die Autorin des Buches „Die Zukunft ist menschlich“ (GABAL Verlag) ist fest davon überzeugt, dass die Krise auch eine Chance ist, zu überlegen, was dem Unternehmen wichtig ist: „Wenn Geschäftsreisen und Messen wegfallen, kann ich die Zeit nutzen, das eigene Portfolio auf Zukunftssicherheit zu prüfen und Neues zu gestalten. Was kann ich jetzt umsetzen? Alle wurden aus ihrer Komfortzone gerissen und das kann durchaus eine Chance sein.“
Allerdings warnt die Dialego-Chefin davor, dass der Blick dabei zu sehr nach innen gerichtet wird und somit der Blick nach außen, auf Zukunftschancen im Markt, verloren geht. Erwartet wird, dass die Wirtschaft im dritten, vor allem aber im vierten Quartal, wieder kräftig anzieht, doch vorerst herrscht große Unsicherheit. „Wir müssen aufpassen, dass Innovieren hinter dem Reformieren nicht auf der Strecke bleiben, denn es geht um die Gestaltung der Zukunft.“