21. Dez 2022
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Lifestyle
Journalist: Kirsten Schwieger
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Foto: Juni Junkov
Interview mit Joachim Sproß, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V., über ein zukunftsweisendes Pilotprojekt.
Ihr Pilotprojekt „Patientenlotse“ ist gerade verlängert worden - worum handelt es hierbei?
Seit drei Jahren stellen wir in fünf von insgesamt 26 unserer Neuromuskulären Zentren (NMZ) jeweils eine halbe Personalstelle für einen Patientenlotsen zur Verfügung. Diese Case-Manager in Jena, Leipzig, Göttingen, Heidelberg und Essen sind Ansprechpartner, Vermittler sowie Koordinatoren innerhalb des jeweiligen NMZ, organisieren interdisziplinäre Konsultationen und leiten den Patienten zu den entsprechend notwendigen Stellen.
Welche Vorteile bietet diese Konstellation?
Die Vorteile der Patientenlotsen sind die kurzen Wege zu den einzelnen involvierten Personen und Abteilungen. Ihr direkter Kontakt mit den Patienten führt zu einer wesentlichen Verbesserung der Kommunikation. Und da die Lotsen administrative und organisatorische Aufgaben übernehmen, kann sich das medizinische Personal auf seine eigentlichen Aufgaben in der medizinisch-therapeutischen Versorgung von neuromuskulär erkrankten Menschen konzentrieren. Durch diese verbesserten Rahmenbedingungen wird die Erstellung von Diagnosen frühzeitiger erfolgen und es werden passgenauere Therapieoptionen und -anpassungen möglich sein. Somit ist der Kostenträger gleichfalls Profiteur der Patientenlotsenleistung.
In welcher Form profitieren die Patienten davon?
Beispielsweise müssen Patienten nicht diverse Male anreisen, sondern haben bei einem Termin alle Fachspezialisten vor Ort. Die Unterlagen der Vorbefunde sind zusammengestellt. Auch die Wartezeiten verkürzen sich durch gute Kommunikation. Außerdem kümmern sich die Patientenlotsen auch um die Koordination der Hilfsmittel beziehungsweise sonstige Versorgungs- und Unterstützungsmodule.
Warum ist die Behandlung neuromuskulärer Erkrankungen so komplex?
Es existieren hunderte verschiedene Formen neuromuskulärer Erkrankungen mit sehr unterschiedlichen Verläufen. Eine Betrachtung der Betroffenen und ihrer Familien ist von vielen Seiten notwendig. In diesem „Dschungel“ der medizinischen Versorgung zurechtzukommen, ist sehr schwierig für Laien. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem die Spezialisten oft sehr lange Wartezeiten haben.
Woher kam das Geld für die fünf halben Stellen?
Finanziert wurde das auf drei Jahre angelegte Pilotprojekt durch eine Privatperson und sechs Pharmaunternehmen. Der wirtschaftliche Zuschuss ist nicht verbunden mit einem inhaltlichen Einfluss. Wir sind sehr zufrieden, dass sich auch die Pharmaindustrie diagnoseübergreifend dem Thema der Versorgungsstrukturverbesserung im neuromuskulären Bereich widmet.
Was sind Ihre Hoffnungen und Pläne für die Zukunft?
Ein universitärer Fortschrittsbericht evaluiert derzeit das Projekt. Zwischenberichte zeigen bereits den Nutzen dieser Unterstützungsform für Patienten, die medizinische Struktur und den wirtschaftlichen Benefit. Daher senden wir diese Signale an die Politik, um eine Überführung des Lotsenangebots in die öffentlichen Finanzierungssysteme anzustreben. Bundesweit unterstützen mittlerweile mehr als 45 Patientenlotsen-Projekte in unterschiedlichen Indikationen Menschen mit komplexen Lebenslagen. Die Bundespolitik hat den Bedarf inzwischen erkannt und Patientenlotsen in den aktuellen Koalitionsvertrag aufgenommen. Nun geht es darum, die Umsetzung in die Praxis zu organisieren.