4. Apr 2019
|
Lifestyle
Journalist: Katja Deutsch
Andy Holzer hat ohne jegliches Augenlicht den Mount Everest erklommen und den allerhöchsten Punkt der Erde berührt. Wie hat er das geschafft?
Als wir telefonieren, ist der österreichische Bergsteiger Andy Holzer gerade zurück aus den Bergen. „Nach mehreren Tagen im Büro oder auf Vortragsreise werde ich unruhig und schlecht gelaunt. Ich muss dann einfach wieder in die Natur!“ Rund 200 Tage verbringt der 52jährige in den Bergen, gut 100 Tage pro Jahr reist er von einer Veranstaltung zur nächsten, wo er in ausverkauften Sälen einem atemlos lauschenden Publikum aus seinem Leben erzählt. Denn er ist einer von nur zwei blinden Menschen auf der ganzen Welt, die es mit hartem Training und unglaublicher Willenskraft fertiggebracht haben, auf sagenhafte 8.848 Meter Höhe zu gelangen – den legendären Mount Everest zu bezwingen. Im Alter von 50 Jahren.
Einen Begleiter für seine „normalen“ Bergtouren zu finden, ist jedes Mal eine riesige logistische Herausforderung. „Denn zusätzlich zu meiner eigenen Motivation muss ich jemanden finden, der mitten in der Woche Zeit und Lust hat, mit mir auf 2.500 Meter hoch zu gehen. Jetzt im Winter mache ich Skitouren und das ist sehr anstrengend. Aber vielleicht ist das genau der Punkt: Dadurch hat mein Level den eigenen Antrieb nach oben gepusht und mich zu dem gemacht, was ich bin.“
Der Österreicher war von Geburt an blind und wuchs ohne Sonderbehandlung auf. Seinen ersten Gipfel bestieg er im Alter von neun Jahren, den Felsen ganz oben zu berühren war ein tiefgreifendes, überwältigendes Erlebnis. Seitdem hat Andy Holzer in den Bergen sein Metier gefunden und erklettert 1000 Meter hohe, senkrechte Überhänge, hangelt sich eisige Gletscher hoch, meistert gefährliche Schluchten, Abhänge, Geröllfelder, Grate. Was sich die wenigsten Sehenden trauen, macht er voller Begeisterung und Leidenschaft – bei immerwährender Dunkelheit.
Kennt er überhaupt Angst? Und wie, sagt er: „Schon als kleiner Junge habe ich gelernt, dass Angst mein Partner ist, nicht mein Gegner. Ohne Angst würde ich schon lange nicht mehr leben. Ich habe mich mit ihr arrangiert, ich spreche jeden Tag mit ihr. Ganz normal, so wie jetzt mit Ihnen.“
Denn wenn der sportliche, großgewachsene Mann mit den langen, blonden Haaren in der Natur ist, lebt er regelrecht auf. Und erklärt, warum er als Blinder dort möglicherweise sogar intensiver seine Sinne nutzt als manch anderer: „Bei mir kommen vier Sinnesnerven im Gehirn an, bei anderen eben fünf. Was sich bei mir anders verhält, ist die Auswertung im Gehirn. Aus den vier verbleibenden Sinnen werden mehr Informationen herausgezogen.“ Der Mensch verfügt nur über ein ziemlich schmales Spektrum: Er hört bis 20 Kiloherz, sieht nur zwischen 500 und 800 Nanometer – Infrarot bis Violett. Er hat jedoch 30 Millionen Riechzellen und besitzt, was sonst kein Lebewesen auf der ganzen Welt in dieser Form hat: Hände.
Und diese haben eine Sonderstellung, denn Fühlen, Greifen, Anfassen und „Handeln“ beansprucht neben der Zunge die größte Gehirnkapazität. Aristoteles nannte die Hände sogar „Organ der Organe“. Doch viele Menschen ließen ihre taktile Wahrnehmung total verkümmern, bedauert der Extremsportler. Sie hätten weder Stoff, Holz, Metall oder Stein in ihren Händen, viele berührten sogar nicht einmal mehr Lebensmittel. „Und Steve Jobs hat den Menschen auch noch das allerletzte Stückchen taktiles Empfinden genommen, indem er die Tasten auf dem Smartphone entfernt hat. Wenn man von einem Fünf-Kern-Prozessor immer nur einen einzigen verwendet – den Sehsinn – dann wird dieser eine irgendwann überfordert sein. Die Möglichkeit, etwas taktil wahrzunehmen, lässt sich doch gar nicht visuell, akustisch oder geschmacksmäßig ersetzen.“
Auf die Berge geht er, indem er die Schulter seines Vordermanns berührt und auf die unterschiedlichen Bodengeräusche achtet. Bei seinen Vorträgen kommen nicht wenige im Anschluss zu ihm vor auf die Bühne. Wollen den Autor zweier Bestseller („Balaceakt“ und „Mein Everest – Blind nach ganz oben“) kennen lernen, bieten ihm an, ihn am nächsten Tag durch die Stadt zu begleiten.
Andy Holzer nennt das „offene Systeme“, sich vernetzen, um gemeinsam etwas zu schaffen und dazu überall Gleichgesinnte zu haben. Drei Anläufe waren nötig, um ihm das größte Geschenk auf Erden möglich zu machen: Den sagenhaften Mount Everest zu besteigen. Die Tour kostet pro Kopf 50.000 Euro, insgesamt hat er sie zehn Mitstreitern finanziert. Beim dritten Versuch kamen weder Eisregen noch Lawine dazwischen, und in der letzten Etappe, die sie nachts um 23 Uhr begannen, erreichte das Trio in der aufgehenden Morgensonne den Gipfel. „Es war ein unglaublich ergreifender Moment, den höchsten Punkt des gesamten Planeten zu berühren. Und aufzupassen, dass man – übernächtigt, geschwächt und nach der unfassbaren Anstrengung und Anspannung ohne Konzentration – die fünf Stunden Abstieg zum nächsten Lager sicher meistert.“ Der offene und warmherzige Österreicher hat es geschafft, seine Begleiter ebenso. Ein Wahnsinnsunternehmen, das ein Leben lang glücklich macht.