29. Dez 2025
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Gesundheit
Journalist: Kirsten Schwieger
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Foto: Julia Sellmann
Was die Gastroenterologin und Bestsellerautorin Giulia Enders von ihrem Körper gelernt hat, welche Signale er sendet und wie man eine gute Beziehung zu ihm aufbaut.
Frau Dr. Enders, läuft in unserer Gesellschaft etwas schief? Wie im Körper auch, läuft in unserer Gesellschaft erst einmal vieles gut. Wir werden im Schnitt doppelt so alt wie die Menschen vor 100 Jahren, haben eine der niedrigsten Armutsraten unter den Industrienationen, Gewaltkriminalität ist historisch niedrig. Trotzdem geht es vielen Menschen nicht gut. Wir haben mehr Ängste, sind einsamer und spüren einen anderen Leistungsdruck – vor allem auch im privaten Leben. Die digitalisierte Welt wird lauter und unberechenbarer. Ich glaube in solchen Zeiten braucht es eine Art Anker, um eine neuartige Ruhe zu finden. Der Körper kann einer sein.
Darum geht es in Ihrem neuen Buch? Ja. Mir persönlich hat es immer wieder geholfen, den Körper heranzuziehen, wenn die Welt mir zu unklar war. Während der Covid-Pandemie habe ich mich beispielsweise gefragt, was Sicherheit für einen Körper bedeutet und war überrascht davon, dass unser Immunsystem diesen Begriff anders auslegt als ich gedacht hätte. Beziehungstipps und -ratgeber gibt es viele, aber eine der hilfreichsten Perspektiven habe ich von der Haut gelernt und seit ich in meinem Arbeitsleben mehr nach den Prinzipien der Muskeln agiere, wirke ich nach außen vielleicht weicher, aber bin wirksamer als früher. All das hat mich dazu gebracht zu sagen: wir sollten mehr von unserem Körper lernen.
Anstatt Optimierungswahn ist also ein besseres Verständnis vom eigenen Körper gefragt? Ja, denn wir haben auch eine Art Beziehung mit dem Körperlichen. Wenn diese nur darauf ausgelegt ist, den Körper ständig zu verbessern – was ergibt das? Im sozialen Miteinander wäre so etwas keine schöne Freundschaft, sondern fiele eher in den Bereich „Nutztierhaltung“. Verständnis ist in langen Ehen manchmal wichtiger als Liebe – ich glaube, das gilt auch für die Beziehung mit uns selbst.
Und, um Krankheiten vorzubeugen, oder? Deutschland gehört zu den Ländern mit extensiven Vorsorgeprogrammen. Wer will, kann gut vorsorgen. Wenn es allerdings darum geht, schon im Alltag und bei frühen Zeichen gut mit dem Körper zusammenzuwirken, gibt es noch Luft nach oben. Schlafstörungen beginnen zum Beispiel meistens schon in den 30ern, aber gerade dann sind viele Menschen zu sehr mit Job und Familie beschäftigt, um sich damit zu befassen. Oft stört es uns dann erst in der Rentenzeit genug, um etwas zu unternehmen. Auch erste Rückenschmerzen könnten eigentlich früh auf muskuläre Probleme hinweisen, aber wir ignorieren sie gerne bis der Schmerz unerträglich wird.
Wir sind nicht nur ein kluges Hirn und ein Bildschirm, sondern ein summendes, organisches Lebewesen mit vielen Kompetenzen an den unterschiedlichsten Stellen.
Warum haben Sie sich in Ihrem Buch auf fünf Organe konzentriert? Weil sie für wichtige menschliche Bedürfnisse stehen. Die Lunge für körperliche Grundbedürfnisse wie das Atmen, das Immunsystem für Sicherheit und die Haut für Beziehungen, weil sie Berührung und Verletzung vermittelt. Unsere Muskeln vertreten Kraft und Wirksamkeit und das Gehirn symbolisiert alles Übersinnliche – Denken und Sein.
Welche Bedeutung haben die damit verbundenen Bedürfnisse? Bedürfnisse sind wichtig – aus ihnen heraus haben wir Menschen uns immer wieder stark verändert. Wir gingen an Land, um mehr Sauerstoff zu bekommen, betrieben Ackerbau aufgrund von Hunger und auch moderne Entwicklungen wie Social Media gibt es wegen dem Bedürfnis nach Beziehungen und Zugehörigkeit.
Haben Sie konkrete Tipps zur besseren Körperwahrnehmung? Ich habe mittlerweile eine neue Angewohnheit, dank meines Smartphones. Wenn ich den Impuls verspüre, das Handy aus der Tasche zu ziehen, versuche ich erstmal nachzuhorchen, wie es meinem Inneren geht. Atme ich flach oder bauchig? Welche Muskeln spanne ich an? Wie müde oder wach bin ich? Habe ich Appetit auf etwas Bestimmtes? Wie ist meine Körperhaltung und was würde mich heute noch freuen? Am Anfang dauert sowas eine kurze Weile, auf Dauer klappt es schneller. So hat mir das Gerät, das mich sonst aus dem Körper wegholt, dabei geholfen, wieder öfter bei ihm einzukehren. Gut, oder?
Absolut. Welche Rolle spielt denn Selbstliebe und Dankbarkeit in diesem Prozess? Für mich lässt sich das nicht künstlich erzeugen, indem mir jemand sagt: „Du bist schön so wie du bist“. Ich empfinde es aber, wenn ich zum Beispiel ein Video von Immunzellen sehe, die unter dem Mikroskop herumwuseln und jede Körperzelle abtasten, der sie dabei begegnen. Jede Sekunde sind sie damit beschäftigt, nachzuforschen, wie es uns geht. Das ist doch rührend! Bei mir kommt dann auch Liebe und Dankbarkeit auf.
Sie schreiben: „VON meinem Körper zu lernen und nicht nur ÜBER ihn, hat mich verändert“ – inwiefern? Während der Recherche ist etwas in meinem Kopf gekippt: ich hatte nicht mehr das Gefühl, mein Gehirn versteht die ganzen Abläufe im Körper vorbildlich, sondern: Es ist auch mal beeindruckt und demütig, wie gut andere Organe ihre täglichen Aufgaben erledigen. Das mag etwas komisch klingen, aber sorgte für eine Ebenbürtigkeit, die ich wichtig finde. Wir sind nicht nur ein kluges Hirn und ein Bildschirm, sondern ein summendes, organisches Lebewesen mit vielen Kompetenzen an den unterschiedlichsten Stellen.
Ganz oben auf der Bucketlist der 35-jährigen Gastroenterologin und Bestsellerautorin (Darm mit Charme): in einem Lichtschutzgebiet nachts den Sternenhimmel angucken. Schwach wird die Mannheimerin bei Kartoffelknödel mit Soße, Kastanien und Rotkraut. Die Illustrationen für das neue Buch „Organisch“ hat übrigens ihre Schwester Jill erstellt.